TEXTE


Die LINIE

 

»Die fast grenzenlose Bandbreite linearer Formen eröffnet eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Interaktion von Linie und Raum zu erforschen und sichtbar zu machen.«

 

 

 

Intention meiner künstlerischen Arbeit ist es, mit malerischen, zeichnerischen und auch anderen bildnerischen Mitteln den Raum zu erkunden. Dabei übernimmt die Linie eine vorherrschende und autonome Funktion– nicht etwas darstellend, sondern in vielfältiger Gestalt als eigenständiges Ausdrucksmittel. Die fast grenzenlose Bandbreite linearer Formen eröffnet eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Interaktion von Linie und Raum zu erforschen und sichtbar zu machen. Der Arbeitsablauf hat dabei auch experimentellen Charakter. Das Wagnis, sich auch auf Ungewisses einzulassen, ist gleichzeitig Herausforderung, gefundene Ergebnisse in die eigene Bildsprache zu transferieren. Geordnetes existiert neben dem chaotisch unübersichtlichen, die Überfülle neben der Reduktion, die Ruhe neben der Bewegtheit, die Abwehr neben der Öffnung, dass Konforme neben dem Individuellen. Das Zufällige wird in rhythmische Grundstrukturen überführt, die das Bildtableau ausfüllen und über den Bildrand hinaus in den Raum schwingen. Es entstehen komplexe neue Ordnung- und Struktursysteme. Die durch Linien vernetzten Bildräume in zurückhaltender Farbgebung und meist im schwarz- weiß- Kontrast mit einer Vielzahl von Ebenen lassen geometrische Gesetzmäßigkeiten erkennen, ohne in mathematisch-technische Kühle überzugehen.

Das Prinzip der Interaktion von Linie und Raum ist nicht allein Grundlage meiner Malerei. Es hat gleichzeitig Gültigkeit für andere Werkgattungen– für die großformatige Zeichnung, für meine Papercuts und auch für die in den vergangenen Jahren entstandenen wandfüllenden Tapes. Das Ziel der Raum- Erkundung und des spielerischen Transfers von Bildstrukturen erreiche ich damit in einer neuen Dimension. Mit dem Ziel, die Linie vom zwei- in den dreidimensionalen Raum zu überführen, entstanden 2018 erste Papercuts aus gefärbten Papieren und mit dem Skalpell geschnittenen Linien. So ergaben sich netzartige Strukturen zwischen fließenden und strengen Linien, Zwischenräumen und Verdichtungen, Flächen und Freiflächen. Eine Annäherung zur dritten Dimension bewirkten meine Tape- Arbeiten auf der Galeriewand: Die Linie verlässt im Überschreiten der imaginären Bildbegrenzung den zweidimensionalen Raum. Angepasst an die räumlichen Gegebenheiten, entwickelt sich eine Bildidee, und es entsteht eine räumliche Gesamtkomposition, eine Raumzeichnung.

 

Cornelia Rohde


Die LINIE

 

 

 

Die Auseinandersetzung mit der Linie zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk von Cornelia Rohde. Sie ist autonomes Thema ihrer Malerei, gleichberechtigtes Sujet neben Landschaften und figurativen Werken. Ihre Arbeiten erforschen das Spektrum der Linie in unterschiedlicher Dichte und Intensität und inszenieren unterschiedlichste Anmutungen. Stets vereinnahmen die Linien die gesamte Bildfläche, nehmen diese wie selbstverständlich ein. Ihre Kraft macht nicht an den Rändern des Bildträgers halt, sondern scheint über diesen hinaus zu wirken.

 

Manche Linien-Arbeiten leben ganz von der Konzentration auf einige wenige, dezidiert gesetzte Linien, die sich tastend und suchend über die gesamte Erstreckung des Bildraums fortentwickeln. Sie muten wie Nervenbahnen an, die ihren Verlauf in eine fest geformte Umgebung eingraben. Mitunter nähern sie sich vorsichtig an, verdichten sich locker, lassen dabei aber stets einen Zwischen-Raum. Partiell gebündelt, behält die einzelne Linie ihre Prägnanz, ohne dabei akribisch vermessen zu wirken.

Neben denen in ihrer Reduktion prägnant formulierten Werken gibt es solche, in denen die Linie als formelhaftes Element in unendlicher Wiederholung auftritt. Der Charakter der einzelnen Linie tritt zugunsten ihrer Verdichtung zurück, die mitunter an organisch wimmelnde Lebensformen erinnert. Diese Arbeiten sind von einer kraftvollen Energie getragen, die gleichwohl geheimnisvoll bleibt.

In ihrer Dichte bildet die Linie in manchen Werken ein regelrechtes Liniennetz von fest verwobener Struktur und für das Auge des Betrachters undurchdringlich. Eine Orientierung auf der Bildfläche ist hier nicht mehr möglich. Der Blick verliert sich im Dickicht der Strukturen, deren Führung die Fläche in Vibration oder Schwingung versetzt.

Andere Arbeiten überzieht ein Netz Nadel-gleicher Spitzen, die sich gegen die Außenwelt zur Wehr setzen. Weniger abweisend fällt dagegen der Bildcharakter aus, wenn in weichen, breiten Pinselstrichen aufgetragene Linien eine Oberflächenstruktur erzeugen, auf der sich eine wehende, fließende Energie abzeichnet. Hier wird der Blick des Betrachters nicht abgewehrt, er kann auf den Arbeiten ruhen, darüber schweifen.

Daneben gibt es immer wieder Werke, in denen die Linie in ihrer filigranen Feinheit akzentuiert wird. Wie ein dünnes Gespinst überziehen sie dabei die Oberfläche, ergeben zart verästelte, feine Strukturen, die rhythmische Impulse übermitteln, von ekstatischer Impulsivität getrieben.

Getragen wird dieser Charakter auch von der Farbe, die in dieser Werkserie dezent verbleibt. Sie hinterfängt atmosphärisch, was in konzentrierter Form in der Linienstruktur angelegt ist. Viele Arbeiten verbleiben in schlichtem Schwarz-Weiß. Je lebhafter jedoch die Linienstrukturen ausfallen, desto bedeutsamer wird die Rolle der Farbe im Bild. Diese erzeugt mitunter ein inneres Leuchten, eine geheimnisvolle Lichthaftigkeit. Dabei bleibt stets die Linienstruktur das bestimmende Element, mal tastend und suchend, mal voller Leichtigkeit.

In den Linien-Arbeiten von Cornelia Rohde werden die Koordinaten des Lebens spürbar, seine Gegensätze und sein Reichtum. Das Geordnete existiert neben dem chaotisch Unübersichtlichen, die Über-Fülle neben der Reduktion, die Ruhe neben der Bewegtheit, die Abwehr neben der Öffnung, das Konforme neben dem Individuellen. Diese Vielfalt des Lebens, diesen Facettenreichtum inszeniert Cornelia Rohde sowohl im Groß- als auch im Kleinformat, in einer Vielfalt von Techniken.

 

(Text-Auszug von Dr. Sabine Weicherding 2015)

 

 


 

 

„Nulla dies sine linea"

 

 

 

 

 

„Nulla dies sine linea" scheinen Worte zu sein, die Plinius nicht nur über den Maler Apelles in der Antike, sondern auch mit Recht über Cornelia Rohde in der Gegenwart hätte äußern können, denke ich. Die Linie ist auch in ihren Werken zentral. Die Künstlerin schafft durch sie ein neues, körperlich erfahrbares Erleben von Kunst im Raum, dass sich mir erst auf den zweiten Blick zeigt.

Mit malerischen, zeichnerischen und druckgrafischen Mitteln erobert sich die Künstlerin den Raum: Die Linie dient ihr dabei als eigenständiges Mittel zum Zweck.

 

Ohne sie zur Form oder Silhouette zu zwingen, darf sie in unmittelbare Interaktion mit dem Raum und damit auch den in ihm befindlichen Betrachtenden treten.

 

Sie tastet, schlängelt, zeigt, schwingt, strukturiert, ordnet und verwirrt dabei gleichermaßen. Herrlich ratlos bleibe ich zurück und fühle mich in diesen durch Linien getragenen Bildräumen doch zutiefst wohl. Denn instinktiv nimmt mein Körper die Schwingung der Linien auf und interpretiert sie aufgrund meiner Erfahrungen und Assoziationen neu.

 

 

So wird aus dem vermeintlichen Chaos meine persönliche Ordnung.

Das undurchdringliche Dickicht wird zur Spur, der ich durch den Raum folge.

Das zufällige Tönen wird zur Partitur, deren Klang den Raum flutet.

 

 

Cornelia Rohde gelingt es mit ihren – auch als kleine Druckgraphik – raumgreifenden Werken uns als Betrachtende den Raum mit Körper und Geist neu erleben zu lassen.

 

 

 

(Auszug der Eröffnungsrede Kunsthalle Lindenthal von Irina Wistoff 2022)